Erinnern Sie sich bitte an die fiktive Aufgabe zu Beginn des ersten Kapitels. Sie wurden
von einem Vorgesetzten gefragt, ob eine Umstellung von mehreren Einzelbüros auf ein
Großraumbüro sinnvoll sei. Nehmen wir einmal an, es wurde ein Gremium einberufen,
um eine Entscheidung zu dem Thema zu fällen. Nehmen wir weiter an, der Vorgesetzte,
der Sie um Ihren Rat gefragt hatte, sitzt in diesem Gremium und ruft Sie in der Sitzungs-
pause an. Er schildert Ihnen, dass sich im Rahmen der Sitzung eine angeregte Diskussion
entwickelt habe und dass sich die Mehrheit der anwesenden Abteilungsleiter sehr früh
für die Lösung „Großraumbüro“ ausgesprochen habe. Sie haben den Vorgesetzten, der
Sie um Ihre Einschätzung gebeten hatte, vom hemmenden Einfluss der Anwesenheit an-
derer überzeugt, der bei der doch recht komplexen Tätigkeit, die von den betroffenen
Mitarbeitern im neuen Großraumbüro ausgeführt werden soll, zu erwarten ist.
Was denken Sie, werden er und die wenigen Gegner der Großraumlösung sich im Laufe
der Diskussion der Meinung der Mehrheit anschließen? Falls das der Fall wäre, würden
sie sich nur nach außen hin konform verhalten, insgeheim aber an ihrer inneren Über-
zeugung festhalten? Oder würden sie eventuell auch ihre innere Überzeugung ändern?
Wird es einen Unterschied machen, ob wir Ihren Vorgesetzten, der von dem Auftreten
sozialer Hemmung weiß, betrachten oder aber einen anderen Abteilungsleiter, der noch
nie etwas von sozialem Einfluss gehört hat? Was würden Sie Ihrem Vorgesetzten emp-
fehlen, wenn er Sie fragte, ob es sinnvoll sei, zu versuchen, die anderen Abteilungsleiter
umzustimmen?
Sie werden diese Fragen beantworten können, wenn Sie dieses Kapitel durchgearbeitet
haben. Das erste Unterkapitel hat den Einfluss von Mehrheiten zum Gegenstand. Sie
werden erfahren, wie sich die Mehrheitsmeinung auf öffentlich geäußerte und auf privat
gehaltene Überzeugungen auswirkt.
Im zweiten Unterkapitel wird die Frage im Mittelpunkt stehen, welche Möglichkeiten
Minderheiten haben, eine Mehrheit zu überzeugen. Dabei wird auf die dafür förder-
lichen und hinderlichen Umstände und auf das dazu am besten geeignete Vorgehen ein-
gegangen.
2.1 Mehrheiteneinfluss
Haben Sie auch schon von klagenden Eltern gehört, deren Kinder sich nicht mehr ohne
die völlig überteuerten Turnschuhe in die Schule trauen, weil sie befürchten, ohne diese
von den anderen Kindern in der Klasse gehänselt zu werden? Kennen Sie auch die Ar-
gumentation von Rasern, sie wären doch auch nur so schnell gefahren wie die anderen
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2 Konformität und Innovation – der Einfluss von Mehr- und Minderheiten
Verkehrsteilnehmer um sie herum? Haben Sie sich vielleicht selbst schon einmal dazu
hinreißen lassen, auf einer Feier Alkohol zu trinken, obwohl Sie sich eigentlich vor-
genommen hatten, beim Wasser zu bleiben, nur weil alle anderen tranken?
Diese Beispiele beschreiben Situationen, in denen eine Bezugsgruppe, wie bspw. die
Schüler einer Klasse oder die Gäste auf einer Geburtstagsfeier, einen Einfluss auf das
Denken und Verhalten von Menschen ausübt. Dieser Einfluss bewirkt eine Angleichung
an das Verhalten oder an die Meinung der Bezugsgruppe. Mit dieser Angleichung, die in
der Sozialpsychologie als Konformität bezeichnet wird, werden wir uns in diesem
Abschnitt beschäftigen.
Für das Auftreten von Konformität sind zwei grundlegende Triebfedern menschlichen
Verhaltens bedeutsam:
• das Bedürfnis, mit der eigenen Meinung richtig zu liegen, und
• das Bedürfnis, von anderen gemocht und anerkannt zu werden.
Wenn wir in einer Gruppe eine Verhaltensentscheidung treffen, bspw. wenn wir ent-
scheiden, wie schnell wir fahren oder ob wir Alkohol trinken sollten, dann werden diese
Motive wirksam. Das Motiv, ein korrektes Urteil abzugeben, macht uns empfänglich für
informativen Einfluss. Unser Motiv, von anderen gemocht und anerkannt zu werden,
macht uns hingegen anfällig für normativen Einfluss. Wir werden im Folgenden auf
beide Einflussarten detailliert eingehen.
2.1.1 Informativer Einfluss
Konformität kann aus dem Bedürfnis entstehen, ein korrektes Urteil abzugeben oder
sich der Situation angemessen zu verhalten. Dieses Motiv rückt vor allem dann in den
Vordergrund,
• wenn Situationen mehrdeutig sind,
• wenn wir keine Erfahrung mit diesen Situationen haben oder
• wenn wir nicht viel über einen Sachverhalt wissen, über den wir uns eine Meinung
bilden sollen.
In solchen Fällen suchen wir nach Ansatzpunkten dafür, welches Verhalten in der Situa-
tion angemessen oder welche Meinung korrekt ist. Stellen Sie sich zur Illustration fol-
gende Situation vor.
Konformität (Werth et al., 2020, S. 95)
Übereinstimmung eigenen Verhaltens oder eigener Meinungen mit denen der
Bezugsgruppe.
Druck, (auch entgegen der eigenen Meinung) Konformität zu zeigen, kann aus der
realen oder vorgestellten Anwesenheit anderer resultieren.
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Konformität und Innovation – der Einfluss von Mehr- und Minderheiten 2
SOPS 2/H 11
Beispiel 2.1: Worauf schauen Sie im Notfall?
Sie wohnen in einer Großstadt und fahren an einem Samstagabend mit der Straßen-
bahn aus der Innenstadt nach Hause. An einer Haltestelle beobachten Sie, wie sich
auf der Straße ein Mann an eine Häuserwand lehnt und schließlich zu Boden sinkt.
Dies könnte ein Anzeichen dafür sein, dass der Mann ernsthafte gesundheitliche
Probleme hat und dringend Hilfe benötigt. Es könnte aber auch sein, dass dieser
Mann betrunken ist und sich nur kurz ausruht. Was tun Sie in einem solchen Mo-
ment? Ziehen Sie die Notbremse und fragen Sie die anderen Fahrgäste, ob ein Arzt
unter ihnen ist, nur um dann festzustellen, dass es sich um einen Betrunkenen han-
delte?
In dieser Situation ist nicht eindeutig, welches Verhalten angemessen ist. Eine gute
Strategie kann darin bestehen, zunächst einmal zu schauen, wie sich die anderen
Fahrgäste und die Passanten auf der Straße verhalten. Wenn keiner von diesen eine
Rettungsaktion startet, werden Sie wahrscheinlich daraus schließen, dass die ande-
ren die Situation nicht als Notfall interpretieren und sich nicht weiter darum küm-
mern. Vielleicht liegen Sie und die anderen Beteiligten in ihrer Einschätzung richtig;
es könnte aber auch sein, dass Sie am nächsten Morgen in der Zeitung von einem
Mann lesen, der in der Innenstadt einem Herzanfall erlegen ist.
In der eben beschriebenen Situation wurde der sog. informative Einfluss wirksam. Sie
haben sich aus dem Bedürfnis heraus, in einer mehrdeutigen Situation ein richtiges Ur-
teil zu fällen, der Meinung oder Einschätzung anderer Personen angeschlossen (Cialdini,
2001; Cialdini & Trost, 1998; Deutsch & Gerard, 1955; vgl. auch Beispiel 2.2).
Der Tendenz, in unklaren Situationen das Verhalten oder die Meinung anderer als Infor-
mation über die Realität heranzuziehen, sich daran zu orientieren und sich den anderen
dann anzuschließen, liegt das sog. Prinzip sozialer Bewährtheit zugrunde, das im Sin-
ne einer Faustregel besagt: „Was alle machen, ist gut/richtig“ (auch consensus implies
correctness, z. B. Axsom, Yates & Chaiken, 1987).
Der informative Einfluss bewirkt nicht nur öffentliche, sondern auch private Konformi-
tät. Wenn sich eine Person nicht nur öffentlich der Meinung oder dem Verhalten anderer
Personen anschließt, sondern auch innerlich davon überzeugt ist, spricht man von Kon-
version. Der kritische Faktor für das Auftreten von informativem Einfluss ist die Mehr-
deutigkeit der Situation. Je unsicherer eine Situation ist, desto mehr steigt der Bedarf
an Informationsquellen und umso empfänglicher ist man für informativen sozialen Ein-
fluss (Baron, Vandello & Brunsman, 1996; Tesser, Campbell & Mickler, 1983). In
Beispiel 2.2 können Sie dies am Beispiel des klassischen Experiments zum „autokineti-
schen Effekt“ von Muzafer Sherif noch einmal selbst nachlesen.
Prinzip sozialer Bewährtheit (Werth et al., 2020, S. 96)
Wenn viele Personen oder gar alle etwas tun, nehmen wir an, dass es „das Richtige“
ist.
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2 Konformität und Innovation – der Einfluss von Mehr- und Minderheiten
Beispiel 2.2: In mehrdeutigen Situationen werden die Urteile anderer Gruppenmitglieder als
Orientierung herangezogen
Den Teilnehmern einer Studie von Sherif (1935; Jacobs & Campbell, 1961) wurde in
einem vollständig abgedunkelten Raum ein kleiner Lichtpunkt dargeboten. Dieser
Lichtpunkt wurde auf eine Wand projiziert und bewegte sich in Wirklichkeit nicht.
Wenn Menschen keine weiteren Bezugspunkte zur Verfügung haben – wie das in ei-
nem sonst vollständig dunklen Raum der Fall ist –, kommt es ihnen so vor, als bewe-
ge sich der Lichtpunkt ziellos umher (sog. autokinetischer Effekt, eine Art Wahrneh-
mungstäuschung). Die Teilnehmer des Experiments wurden nun gefragt, ob sich das
Licht bewege und, falls ja, in welchem Ausmaß.
Der informative Einfluss zeigte sich in dieser Studie daran, dass sich die mündlich
abgegebenen Schätzwerte der Teilnehmer, die gemeinsam in einer Gruppe die Auf-
gabe bewältigten, aneinander annäherten. Im weiteren Verlauf des Experiments ga-
ben die Teilnehmer ihre Urteile wieder allein ab. Es zeigte sich, dass die von den Teil-
nehmern allein abgegebenen Schätzungen weiterhin den Werten entsprachen, die sie
zuvor in der Gruppe abgegeben hatten. Damit wurde gezeigt, dass in einer mehrdeu-
tigen Urteilssituation die Antworten anderer Personen als Orientierung herange-
zogen und die eigenen Schätzungen daran angeglichen werden. Zudem zeigte sich
Konversion, da die Versuchspersonen sich nicht nur in der Gruppensituation an die
Urteile der anderen anpassten, sondern auch ihre eigene, später privat abgegebene
Einschätzung der Lichtbewegung dem von den anderen vorgegebenen Richtwert
entsprach.
2.1.2 Normativer Einfluss
Zur Illustration des normativen Einflusses bietet sich ebenfalls ein klassisches Experi-
ment der Sozialpsychologie an. Salomon Asch (1951, 1956) legte seinen Versuchsteil-
nehmern Linien unterschiedlicher Länge vor, wie sie in Abb. 2.1 dargestellt sind, und
fragte dann, welche der rechts abgebildeten Vergleichslinien genauso lang sei wie die
links abgebildete Referenzlinie.
Informativer Einfluss (Werth et al., 2020, S. 95)
• Einfluss, der auf dem angenommenen Informationswert der Meinung anderer
beruht (denn das Verhalten anderer informiert über die Realität),
• resultiert meist in Konversion (öffentlicher Konformität und zugleich innerer/
privater Überzeugung).
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Konformität und Innovation – der Einfluss von Mehr- und Minderheiten 2
SOPS 2/H 13
Abb. 2.1: Beispiel für die in Aschs Konformitätsstudien verwendeten Urteilsaufgaben
(Werth et al., 2020, S. 97, Abb. 2.5)
Sie halten dies für eine recht einfache Aufgabe? Nun, die mittlere der Vergleichslinien
entspricht, wie Sie vermutlich erwartet haben, tatsächlich in ihrer Länge der Referenz-
linie.
Beispiel 2.3: Die Urteile anderer Gruppenmitglieder führen zu einer nach außen hin
konformen Meinungsäußerung (Compliance)
Die Teilnehmer der Untersuchung von Asch (1951, 1956, Exp. 1) waren aufgefor-
dert, 18 Aufgaben – beispielhaft in Abb. 2.1 dargestellt – zu lösen, d. h. sie sollten
jeweils entscheiden, welche von drei dargebotenen Linien genauso lang war wie die
Referenzlinie. Die Teilnehmer lösten diese Aufgaben entweder alleine oder aber
gaben ihr Urteil öffentlich in Gruppen zu je acht Personen ab.
In der Gruppenbedingung war die Reihenfolge, in der die Anwesenden ihre Mei-
nung kundtun sollten, durch die Sitzordnung vorgegeben. Was die Teilnehmer nicht
wussten, war, dass sie in ihrer Achtergruppe jeweils der einzige „echte“ Teilnehmer
waren – die restlichen Mitglieder waren Vertraute des Versuchsleiters. Der echte
Teilnehmer wurde zudem immer so platziert, dass er sein Urteil als einer der Letzten
abzugeben hatte. Die Vertrauten des Versuchsleiters gaben in einigen der 18 Durch-
gänge korrekte Antworten ab, in der Mehrheit der Fälle wählten sie jedoch einheit-
lich eine offensichtlich falsche Lösung, sodass der echte Teilnehmer mit einer zwar
falsch urteilenden, aber einmütigen Mehrheit konfrontiert war. Unter dieser Bedin-
gung stieg die Fehlerrate bei den echten Teilnehmern stark an: 74 Prozent gaben bei
dieser einfachen Aufgabe fehlerhafte Antworten. Wurde das Urteil alleine abgege-
ben, lagen nur 5 Prozent der Teilnehmer falsch.
Wie lassen sich die in der Beispielstudie dargestellten Befunde erklären? Wie kann es
sein, dass die Teilnehmer gegenüber einer zwar einmütigen, aber offensichtlich falsch
urteilenden Gruppe eine solche Konformität zeigen?
Übung 2.1:
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer Run-
de von acht Personen und die fünf Personen vor Ihnen haben sich felsenfest für die
rechte der drei Linien ausgesprochen. Wären Sie sich Ihrer Meinung immer noch so
sicher? Und selbst wenn Sie sich sicher wären, würden Sie sich als Einzige oder Ein-
ziger – entgegen der überwältigenden Mehrheit – für die mittlere Linie aussprechen
oder würden Sie sich – zumindest öffentlich – der Mehrheit anschließen?
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2 Konformität und Innovation – der Einfluss von Mehr- und Minderheiten
Eine einmütige Mehrheitsmeinung bewirkt über informativen und normativen Einfluss,
dass sich Individuen in ihrer Meinung an eine Mehrheitsmeinung anpassen. Den infor-
mativen Einfluss haben Sie bereits in Abschnitt 2.1.1 kennengelernt. Auch im Experi-
ment von Asch wurde informativer Einfluss nachgewiesen. So gaben in einer Variante
des Experiments (siehe Asch, 1956, Exp. 4) Teilnehmer, die ihr Urteil auf einen Zettel
schreiben sollten – weil sie aufgrund einer vermeintlichen Verspätung nicht am Grup-
penexperiment teilnehmen durften – aufgrund der falschen Einschätzungen der Verbün-
deten des Versuchsleiters ebenfalls mehr kon