Fantasy
Kapitel 1: Der gefangene Traum
Maîra fühlte sich wie im Nebel, die Realität verschwamm um sie herum. Der Mann, dessen Stimme sie erkannte, war der falsche Diener, der in der Vergangenheit schon einmal in den Hallen ihrer Familie umhergeschlichen war. Sein Gesicht war ihr nur flüchtig bekannt, doch seine Augen, kalt und berechnend, schienen sie gnadenlos zu durchbohren, als er hinter dem Pferd herging. Sie wollte ihm die Fragen entlocken, die ihr Herz quälten, aber ihre Zunge fühlte sich an wie gelähmt.
„Wohin bringt ihr mich?“, krächzte sie erneut, ihre Stimme klang brüchig und klein. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sich die anderen Elfen um sie herum bewegten, leise wie Schatten zwischen den Bäumen. Jeder Schritt, den sie machten, schien die Stille des Waldes zu verstärken, als ob die Natur selbst den Atem anhielt.
„Das hat euch nicht zu kümmern“, wiederholte der falsche Diener mit einem spöttischen Lächeln. Sein Tonfall war überheblich, beinahe verächtlich. Das Herz von Maîra schlug unregelmäßig in ihrer Brust, während sie den gewundenen Pfad hinaufblickte, der sich steil zwischen den uralten Bäumen und zerklüfteten Felsen schlängelte. Der Pfad war kaum sichtbar, umgeben von hochgewachsenen Pflanzen, deren Blätter in einem unheimlichen Licht schimmerten.
Gerade als sie sich fragte, ob sie je wieder die Wärme ihrer Familie spüren würde, kam eine Frau näher. Sie war von schneeweißen Haaren umrahmt, die im Wind tanzten, und ihre gelbgrünen Augen strahlten eine unerklärliche Ruhe aus. „Trinkt, das wärmt“, flüsterte sie mit einer sanften, melodischen Stimme und hielt Maîra eine Feldflasche an die Lippen.
„Ich will nicht“, protestierte Maîra, aber die Mühe war vergebens. Die Flasche war schon angehoben, der bittersüße Geschmack drang in ihren Mund. Ein Frösteln überkam sie, und sie spürte, wie eine endlose Müdigkeit von ihr Besitz ergriff. Das letzte, was sie sah, waren die leuchtenden Augen der Frau und das Gesicht des falschen Dieners, das in einem Lächeln gefangen war.
Als Maîra das Bewusstsein verlor, fiel sie in eine tiefe, traumlose Dunkelheit. Es war, als würde sie in ein tiefes Wasser sinken, in dem kein Licht und kein Geräusch existierte.
„Maîra!“, ein leises Flüstern schwebte durch die Dunkelheit. War das der Klang ihrer Schwester, die sie rief? Ein vertrauter, aber verwirrter Klang. „Wo bist du?“
Maîra versuchte, sich aus der Dunkelheit zu befreien, ihre Arme zu bewegen, aber sie fühlte sich, als wäre sie in Blei gehüllt. Sie wollte antworten, wollte zurückrufen, aber ihre Stimme war fort.
Die Dunkelheit begann sich zu lichten, und sie fand sich in einem verwunschenen Garten wieder. Blumen in allen Farben blühten um sie herum, und die Luft war erfüllt von einem süßen, berauschenden Duft. Doch die Freude war trügerisch; die Pflanzen schienen sich zu ihr zu neigen, als wollten sie sie festhalten.
„Maîra!“, rief ihre Schwester erneut, aber diesmal klang es weiter entfernt, wie ein Echo, das durch die Zeit gereist war. „Hilf mir!“
Mit aller Kraft versuchte Maîra, sich zu bewegen, den Garten hinter sich zu lassen. „Ich komme!“, schrie sie, doch der Klang ihrer eigenen Stimme war nur ein Flüstern in der Weite des Gartens.
Plötzlich spürte sie eine Präsenz hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie die Frau mit den gelbgrünen Augen, die sie zuvor getroffen hatte. „Du musst den Garten betreten, Maîra“, sagte die Frau, und in ihrer Stimme lag eine tiefe Melancholie. „Es gibt keinen anderen Weg.“
Maîra fühlte, wie ihr Herz raste. „Was ist hier los? Wo ist meine Familie?“
Die Augen der Frau leuchteten kurz auf, dann wurde ihr Blick ernst. „Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Du musst die Wahrheit über dich selbst erkennen, bevor du zurückkehren kannst.“
Mit einem Schlag wurde Maîra klar, dass dies kein einfacher Traum war. Ihre Gedanken wirbelten, während die Dunkelheit erneut um sie herum zu wachsen begann. „Ich werde kämpfen!“, rief sie und spürte, wie eine Welle von Entschlossenheit in ihr aufstieg. „Ich werde nicht aufgeben!“
In diesem Moment begann der Garten zu verblassen, und die Dunkelheit verschlang sie erneut. Doch tief in ihrem Herzen wusste Maîra, dass die Suche erst begonnen hatte – und dass sie sich der Wahrheit stellen musste, wenn sie jemals nach Hause zurückkehren wollte.